Es war gestern Abend, so gegen halb zehn, als es an meiner Tür klingelte. Es war nicht die Wohnungstür, die lag im dritten Stock. Nein, dieses Klingeln gehörte zur Haustür im Erdgeschoss und zur Gegensprechanlage.
»Behrend?«
Ein Rascheln knisterte und knatterte durch die alten, brüchigen Leitungen des Hauses, das aus den Fünfzigerjahren stammte.
»Ist da wer?«
Eine weitere atmosphärische Störung kroch an mein Ohr. Dann aber klärten sich die phonetischen Elemente und eine androgyne Stimme ertönte.
»Spreche ich mit der Autorin? Gabriele Behrend?«
Ich stockte. Kälte kroch mir durch die Adern. Ich, eine Autorin? Dafür hatte ich doch viel zu lange nichts geschrieben, nichts entworfen, keine Welten gebaut, keine Konsequenzen gezogen, keinen Helden geopfert – kurzum: Ich hatte nichts getan, was Autoren so im Allgemeinen trieben.
»Ich weiß nicht«, stotterte ich also.
»Lassen Sie mich ein? Ich muss etwas mit Ihnen besprechen.«
Warum auch immer, ich drückte den Türöffner, lauschte dem Surren des Tasters und dem Rauschen eines Mantels oder Umhangs, ich konnte das nicht genau identifizieren. Dann verharrte ich einen Moment hinter der geschlossenen Wohnungstür und erwartete mit klopfendem Herzen und einem Kloß im Hals das zweite Klingeln. Als es ausblieb, zog ich die Tür langsam auf und spähte auf den erleuchteten Hausflur. Ich reckte den Hals und suchte das Treppenhaus nach meinem Besucher ab. Schließlich hörte ich den Klang von Schritten auf der Treppe und das Rauschen eines Capes.
Schließlich stand eine Figur vor mir, gekleidet in einen schwarzen Frack, tatsächlich angetan mit einem Cape, weinrot gefüttert, mit schwarzer Außenseite. Das Gesicht war nicht zu erkennen, es war bedeckt von einer Maske in Steingrau. Das Wesen stützte sich mit der rechten Hand schwer auf einen Gehstock mit kunstvoll ziseliertem Knauf. Es atmete heftig, sein Brustkorb hob und senkte sich in beeindruckender Weise.
»Gabriele Behrend?«, keuchte die Person.
»Kommen Sie herein und setzen Sie sich. Ein Glas Wasser?« Ich sorgte mich um das Befinden des Ankömmlings.
Der späte Gast winkte ab, folgte mir aber in die Wohnung.
»Immer geradeaus durch und dann auf das Sofa linksherum.« Ich dirigierte den Fremden wie selbstverständlich durch den Flur und folgte ihm zwei Schritte später, nachdem ich noch eine Flasche Sprudel und zwei Gläser aus der Küche geholt hatte.
Als ich in meinem Zimmer den rückwärtigen, direkt zum Fenster gelegenen Teil erreicht hatte, hatte das Wesen bereits auf meinem kleinen Zweisitzersofa Platz genommen. Meinem Denkersofa, wie ich es gern nannte. Nur, um der Ehrlichkeit Genüge zu tun, war auf diesem Sofa in letzter Zeit nicht besonders viel nachgedacht worden. Auch nicht geträumt oder fantasiert. Vielmehr hatte ich darauf gelegen und vor mich hinvegetiert, begraben von Kummer und Sorgen und einer geballten Ladung Leere, Aushöhlung und Erschöpfung.
Das alles hatte in diesem Moment keinen Platz auf meinem Sofa, denn das war besetzt von dem späten Gast und umflossen von seinem Cape.
»Wer sind Sie? Und was wollen Sie von mir?«
Ich schenkte ein Glas Sprudel ein und hielt es ihm hin. Er nahm es, aber so als wüsste er nicht unbedingt, was er damit anstellen sollte. Also drehte er es in seinen Händen und sammelte sich einen Moment.
»Ich bin gekommen, weil Sie in letzter Zeit keinen Gebrauch von mir gemacht haben. Ich habe des Öfteren versucht, zu Ihnen durchzudringen, aber da war so viel Schwärze, dass ich es nicht geschafft habe. Und deswegen musste ich mich auf den Weg in die diesseitige Realität machen, um nachzusehen, was mit Ihnen los ist.«
Ich hatte ihm zugehört, verstand aber den Sinn seiner Worte nicht. »Wer sind Sie also gleich?«
Mein Gegenüber straffte sich, seine Brust wölbte sich in gerechtem Stolz und dann hob er zu seiner Antwort an: »Ich bin Ihr Talent. Ich bin das, was in Ihnen steckt. Was Sie treibt und was Sie glücklich sein lässt.«
Jetzt schenkte ich mir ein Glas Sprudel ein. Meine Rechte zitterte wieder bedenklich, aber ob das nun eine Nebenwirkung des Lithiums war oder der Eröffnung, meinem Talent gegenüberzusitzen, war mir nicht klar. Es war auch völlig egal. Schnell stellte ich die Wasserflasche neben meinen Schreibtischstuhl und stabilisierte das Glas mit der Linken. Nach einem großen Schluck starrte ich auf den Dschungelbuchteppich, der vor dem Denkersofa ausgerollt lag.
»Was wollen Sie von mir?«
»Ich möchte wieder gebraucht werden! Ich möchte meinen Sinn zurückerhalten. Ich will leben!«
»Ich kann das aber gerade nicht leisten. Ich bin nicht frei, um zu schreiben oder um Sachen zu spinnen und zu erfinden.«
»Warum denn nur nicht?« Das Talent wirkte ehrlich bekümmert.
»Weil in mir nichts ist. Nur eine Leere und ein profundes Nichts. Mein Hirn gleicht weich gekochten Spaghetti, mein Gefühl krankt.«
»Wie können wir das denn richten?«
»Wenn ich das wüsste.«
Da saßen wir nun beide, das Talent auf dem Denkersofa, ich auf dem Schreibtischstuhl, und grübelten über einer Lösung für das Dilemma. Ohne Leben in mir kein Leben für das Talent. Ohne Talent kein Leben in mir.
»Da hilft nur Disziplin«, beschied das Talent nach einer ausgiebigen Denkpause.
»Und das bedeutet?«
»Sie schreiben jeden Tag. Eine Stunde nehmen Sie sich Zeit – oder mehr, wenn Sie erst einmal im Flow sind.«
»Aber wenn ich nicht weiß, worüber ich schreiben soll? Wenn die weiße Seite geiert?«
»Dann schreiben Sie über Ihre Pflanzen, über Ihre Unordnung, über Ihr kreatives Chaos. Schreiben Sie über die Schmerzen in den Schultern, über die Leere in Ihrem Herzen, schreiben Sie über die nachhallenden Träume aus einer anderen Realität. Schreiben Sie über Buchstaben, Sonderzeichen, Ziffern. Aber bleiben Sie im Fluss.«
Ich nahm noch einen Schluck Wasser. Ich klärte meine Kehle mit einem expliziten Schlucken. »Mein Mann sagt immer, es soll mir Spaß machen. Ist diese erwähnte Disziplin nicht kontraproduktiv?«
»Ach, Schätzchen.« Das Talent warf sich sein Cape um die Schulter und wischte damit eine meiner Kunststoffblumen vom Regal. »Erfolg ist immer zehn Prozent Talent, aber neunzig Prozent Disziplin.« Das Talent erhob sich. »Das Leben ist nicht immer das leichteste. Aber das, was hinten rauskommt, lässt alle Mühe vergessen.«
Mit einem dumpfen Aufschlag landete das Wasserglas, das das Talent in den Händen gehalten hatte, auf dem Dschungelbuchteppich.
Mein Besuch war fort. Und während ich mich noch wunderte, dass er nicht den Weg durch das Treppenhaus gewählt hatte, hatte mein Cursor schon das Schreibprogramm angesteuert und geöffnet.
Meine Finger glitten wie von allein über die Tastatur.
… Es war gestern Abend, so gegen halb zehn, als es an meiner Tür klingelte.
»Behrend?«
Ein Rascheln knisterte und knatterte durch die alten, brüchigen Leitungen des Hauses, das aus den Fünfzigerjahren stammte.
»Ist da wer?«
Eine weitere atmosphärische Störung kroch an mein Ohr. Dann aber klärten sich die phonetischen Elemente und eine androgyne Stimme ertönte.
»Spreche ich mit der Autorin? Gabriele Behrend?«
Ich stockte. Kälte kroch mir durch die Adern. Ich, eine Autorin? Dafür hatte ich doch viel zu lange nichts geschrieben, nichts entworfen, keine Welten gebaut, keine Konsequenzen gezogen, keinen Helden geopfert – kurzum: Ich hatte nichts getan, was Autoren so im Allgemeinen trieben.
»Ich weiß nicht«, stotterte ich also.
»Lassen Sie mich ein? Ich muss etwas mit Ihnen besprechen.«
Warum auch immer, ich drückte den Türöffner, lauschte dem Surren des Tasters und dem Rauschen eines Mantels oder Umhangs, ich konnte das nicht genau identifizieren. Dann verharrte ich einen Moment hinter der geschlossenen Wohnungstür und erwartete mit klopfendem Herzen und einem Kloß im Hals das zweite Klingeln. Als es ausblieb, zog ich die Tür langsam auf und spähte auf den erleuchteten Hausflur. Ich reckte den Hals und suchte das Treppenhaus nach meinem Besucher ab. Schließlich hörte ich den Klang von Schritten auf der Treppe und das Rauschen eines Capes.
Schließlich stand eine Figur vor mir, gekleidet in einen schwarzen Frack, tatsächlich angetan mit einem Cape, weinrot gefüttert, mit schwarzer Außenseite. Das Gesicht war nicht zu erkennen, es war bedeckt von einer Maske in Steingrau. Das Wesen stützte sich mit der rechten Hand schwer auf einen Gehstock mit kunstvoll ziseliertem Knauf. Es atmete heftig, sein Brustkorb hob und senkte sich in beeindruckender Weise.
»Gabriele Behrend?«, keuchte die Person.
»Kommen Sie herein und setzen Sie sich. Ein Glas Wasser?« Ich sorgte mich um das Befinden des Ankömmlings.
Der späte Gast winkte ab, folgte mir aber in die Wohnung.
»Immer geradeaus durch und dann auf das Sofa linksherum.« Ich dirigierte den Fremden wie selbstverständlich durch den Flur und folgte ihm zwei Schritte später, nachdem ich noch eine Flasche Sprudel und zwei Gläser aus der Küche geholt hatte.
Als ich in meinem Zimmer den rückwärtigen, direkt zum Fenster gelegenen Teil erreicht hatte, hatte das Wesen bereits auf meinem kleinen Zweisitzersofa Platz genommen. Meinem Denkersofa, wie ich es gern nannte. Nur, um der Ehrlichkeit Genüge zu tun, war auf diesem Sofa in letzter Zeit nicht besonders viel nachgedacht worden. Auch nicht geträumt oder fantasiert. Vielmehr hatte ich darauf gelegen und vor mich hinvegetiert, begraben von Kummer und Sorgen und einer geballten Ladung Leere, Aushöhlung und Erschöpfung.
Das alles hatte in diesem Moment keinen Platz auf meinem Sofa, denn das war besetzt von dem späten Gast und umflossen von seinem Cape.
»Wer sind Sie? Und was wollen Sie von mir?«
Ich schenkte ein Glas Sprudel ein und hielt es ihm hin. Er nahm es, aber so als wüsste er nicht unbedingt, was er damit anstellen sollte. Also drehte er es in seinen Händen und sammelte sich einen Moment.
»Ich bin gekommen, weil Sie in letzter Zeit keinen Gebrauch von mir gemacht haben. Ich habe des Öfteren versucht, zu Ihnen durchzudringen, aber da war so viel Schwärze, dass ich es nicht geschafft habe. Und deswegen musste ich mich auf den Weg in die diesseitige Realität machen, um nachzusehen, was mit Ihnen los ist.«
Ich hatte ihm zugehört, verstand aber den Sinn seiner Worte nicht. »Wer sind Sie also gleich?«
Mein Gegenüber straffte sich, seine Brust wölbte sich in gerechtem Stolz und dann hob er zu seiner Antwort an: »Ich bin Ihr Talent. Ich bin das, was in Ihnen steckt. Was Sie treibt und was Sie glücklich sein lässt.«
Jetzt schenkte ich mir ein Glas Sprudel ein. Meine Rechte zitterte wieder bedenklich, aber ob das nun eine Nebenwirkung des Lithiums war oder der Eröffnung, meinem Talent gegenüberzusitzen, war mir nicht klar. Es war auch völlig egal. Schnell stellte ich die Wasserflasche neben meinen Schreibtischstuhl und stabilisierte das Glas mit der Linken. Nach einem großen Schluck starrte ich auf den Dschungelbuchteppich, der vor dem Denkersofa ausgerollt lag.
»Was wollen Sie von mir?«
»Ich möchte wieder gebraucht werden! Ich möchte meinen Sinn zurückerhalten. Ich will leben!«
»Ich kann das aber gerade nicht leisten. Ich bin nicht frei, um zu schreiben oder um Sachen zu spinnen und zu erfinden.«
»Warum denn nur nicht?« Das Talent wirkte ehrlich bekümmert.
»Weil in mir nichts ist. Nur eine Leere und ein profundes Nichts. Mein Hirn gleicht weich gekochten Spaghetti, mein Gefühl krankt.«
»Wie können wir das denn richten?«
»Wenn ich das wüsste.«
Da saßen wir nun beide, das Talent auf dem Denkersofa, ich auf dem Schreibtischstuhl, und grübelten über einer Lösung für das Dilemma. Ohne Leben in mir kein Leben für das Talent. Ohne Talent kein Leben in mir.
»Da hilft nur Disziplin«, beschied das Talent nach einer ausgiebigen Denkpause.
»Und das bedeutet?«
»Sie schreiben jeden Tag. Eine Stunde nehmen Sie sich Zeit – oder mehr, wenn Sie erst einmal im Flow sind.«
»Aber wenn ich nicht weiß, worüber ich schreiben soll? Wenn die weiße Seite geiert?«
»Dann schreiben Sie über Ihre Pflanzen, über Ihre Unordnung, über Ihr kreatives Chaos. Schreiben Sie über die Schmerzen in den Schultern, über die Leere in Ihrem Herzen, schreiben Sie über die nachhallenden Träume aus einer anderen Realität. Schreiben Sie über Buchstaben, Sonderzeichen, Ziffern. Aber bleiben Sie im Fluss.«
Ich nahm noch einen Schluck Wasser. Ich klärte meine Kehle mit einem expliziten Schlucken. »Mein Mann sagt immer, es soll mir Spaß machen. Ist diese erwähnte Disziplin nicht kontraproduktiv?«
»Ach, Schätzchen.« Das Talent warf sich sein Cape um die Schulter und wischte damit eine meiner Kunststoffblumen vom Regal. »Erfolg ist immer zehn Prozent Talent, aber neunzig Prozent Disziplin.« Das Talent erhob sich. »Das Leben ist nicht immer das leichteste. Aber das, was hinten rauskommt, lässt alle Mühe vergessen.«
Mit einem dumpfen Aufschlag landete das Wasserglas, das das Talent in den Händen gehalten hatte, auf dem Dschungelbuchteppich.
Mein Besuch war fort. Und während ich mich noch wunderte, dass er nicht den Weg durch das Treppenhaus gewählt hatte, hatte mein Cursor schon das Schreibprogramm angesteuert und geöffnet.
Meine Finger glitten wie von allein über die Tastatur.
… Es war gestern Abend, so gegen halb zehn, als es an meiner Tür klingelte.