geschrieben am achten Tag des Ukraine - Konflikts - blauer Himmel, gelbe Sonnenscheibe, das Leben wird siegen.
Trauer den Gefallenen, Hilfe den Geflohenen
Trauer den Gefallenen, Hilfe den Geflohenen
Meine Hand umklammert ein Hasenohr. Der Plüschhase mit den langen Beinen und Armen, den umgeklappten Ohren und dem Puschelschwänzchen ist halb so groß wie ich und schleift mit seinen Hinterpfoten im Dreck, wenn ich mit ihm durch die Straßen ziehe. Der Hase hat vorher einem anderen Kind gehört, das Kind hat ihn nicht mehr genug liebgehabt, also hat es ihn hergegeben. Meine Mutter hat mir gesagt, dass das fremde Kind mich lieber gehabt hätte als den Hasen, und ihn mir deswegen schenken wollte. Aber das glaube ich nicht. Denn wie sollte mich das andere Kind liebhaben? Es kannte mich doch gar nicht. Wir haben uns nie gesehen. Der Hase hatte auf dem Berg anderer Spielzeuge gesessen, er hatte nicht gewusst, dass er zu mir kam, und ich hatte das auch nicht gewusst, aber jetzt hielt ich mich an seinem Hasenohr fest und wanderte durch diesen neuen Platz, der nun mein Platz werden sollte, so lange, bis wir einen besseren fanden.
Wir, das sind meine Mutter, meine kleine Schwester Raini und Sascha, mein größerer Bruder. Raini ist noch ein Baby, sie schläft viel oder starrt aus dunklen Augen stumm in die Welt. Mutter weint oft, still, damit wir es nicht mitbekommen, aber ihre Augen sind immer nass. Sascha schweigt ebenfalls, nur am Mahlen seiner Kiefer kann ich sehen, dass er seine Meinung zurückhält, dass er beinahe an seiner Wut erstickt.
Wenn ich durch die Straßen ziehe, halte ich die Augen niedergeschlagen. Ich will kein Mitleid, ich will nicht bestaunt werden, oder gefeiert, dass ich es aus der Kriegshölle herausgeschafft habe. Meine Freundin Kari ist da anders. Wenn sie ihre Reichtümer am Abend vor mir ausbreitet, Dinge, die sie geschenkt bekommen hat, weil sie ein so braver und überlebenswilliger Flüchtling ist, und weil sie so bezaubernd lächeln kann, dann greife ich zu, obwohl ich selbst nicht gut heißen kann, was sie so anstellt. Aber da ist Schokolade!
Kari sagt, es sei nichts Falsches daran, die Geschenke anzunehmen. Die kämen von Herzen. Und sie freut es, wenn sich andere freuen, dass es sie gibt. Das ist Kari. Ich weiß nicht, wie sie sich diese Unbedarftheit erhalten konnte. In dem Maße, wie Kari abends ihren Tag heraussprudelt, schweige ich. Ich habe nichts zu erzählen. Da ist das plüschige Hasenohr, das sich weich in meinen festen Griff schmiegt. Aber ich sehe kaum etwas von dem Ort, an dem ich mich jetzt bewege. Da sind Häuser, Straßen, Autos, Busse. Menschen, viele Menschen. Hier und da ein Park, in dem es so schön still ist. Aber da ist nichts meins. Alles ist fremd. Alles ist fern. Es fühlt sich wie der Wintermantel an, den man mir umgelegt hat, als ich aus dem Zug geklettert war, eine Hand an Mamas Pullover. Er ist schön, er wärmt, aber er ist eine Spur zu groß und wiegt schwer auf den Schultern und wenn er in den Regen kommt, riecht er nach nassem Hund. Dann muss ich weinen, denn Oleg haben wir zurücklassen müssen. Oleg ist Saschas Hund. Aber wir durften alle mit ihm spielen und er hat Rainis Wiege angestoßen, wenn sie geweint hat. Braver Oleg, treuer Oleg. Vielleicht wartet er auf uns, wenn wir zurückkommen.
Ein Teil von mir weiß, dass wir niemals wieder nach Hause gehen werden. Ein Teil in mir weiß, dass die Heimat verbrannt sein wird, zerstört, genommen von unseren Eltern, Freunden, Geschwistern. Ich werde nie wieder die Alte sein.
Kari sieht mich manchmal überraschend ernst an. Einmal sagte sie in so einem Moment: „Dann hast Du jetzt die Möglichkeit komplett neu anzufangen. Schaff die Elena, die Du schon immer sein wolltest. Elena 2.0, sozusagen.“ Dann krauste sie die Nase und zwinkerte mir zu. „Das ist Deine Chance.“
Ich ziehe den Hasen hinter mir her. Bin wieder einmal dabei den Platz zu vermessen, mit meinen Füßen in den schmutzigen Schuhen. Als ich tief Luft hole, nur um sie mit einem halblauten Seufzen wieder aus mir heraus zu pressen, die Augen geschlossen, da pralle ich mit einem Mal gegen etwas. Ich mache einen halben Schritt zurück und sehe nach oben. Vor mir steht ein Mann, ein Riese und er beugt sich ein Stück zu mir hinunter. Das Sonnenlicht scheint an seinem Ohr vorbei, pikst mich in die Augen, so dass ich kaum etwas erkennen kann.
„Вибачте – Entschuldigung!“ Stammle ich und ziehe den Hasen fest an mich heran.
Der Mann antwortet irgendein für mich unverständliches Kauderwelsch. Es ist Deutsch, aber ich kann die Sprache nicht, vor allem nicht, wenn sie so geballt und schnell auf mich niederprasselt. Ich versuche links und rechts an den Beinen des Herren vorbei zu spähen, will weglaufen, will nicht länger auffallen oder überhaupt gesehen werden. Da spüre ich, wie seine große Hand sich auf meinen Kopf legt, auf mein Haar, das zu zwei zerfranselten Zöpfen geflochten ist, eine Aufgabe, die ich jeden Morgen selbst übernehme, während Mama sich um Raini kümmert. Und mit einem Mal ist es so vertraut. Ich hebe den Kopf, sehe in das Licht, das noch immer um den Kopf des Fremden strahlt, aber da schält sich ein Gesicht aus der Helle, ein Gesicht, das ich kenne und zu dem eine tiefe, warme Stimme gehört, mit einem tiefen sanften Lachen. Papa! Denke ich. Papa, bist du es? Eine Träne löst sich von meinen Wimpern und läuft mir die Wange hinunter.
Der Fremde geht jetzt in die Knie, hockt sich vor mich und will mich beruhigen. Da sehe ich, dass es nicht der Papa ist, löse mich aus dem sanften Griff des Fremden und laufe los, den Hasen immer noch fest in der Hand.
Als ich beschließe, dass es mit dem Rennen genug sei, halte ich an und sehe mich um. Ich bin im Hofgarten gelandet, vor mir schwingt sich der grüne Hügel in die Höhe. Auf dem Plateau dort oben gibt es Bänke und die Statue eines Mädchens. Ich mag das Mädchen, sie ist mir schon einmal auf meinen Streifzügen begegnet. Es hat so ein liebes Lächeln auf den starren Lippen. Dieses Lächeln wird nicht vergehen. Sie ist glücklich und das schon eine lange Zeit, wie mir das Grün auf ihrer Haut erzählt. Papa hat mir einmal erzählt, dass das Patina sei. Ein Teil in mir will wie das Mädchen sein. Ein Teil will glücklich sein.
Ich wandere also den Hügel hinauf und stelle mich vor das Mädchen hin. Vorsichtig hebe ich die Hand und betaste ihren Mund, will ihr Lächeln kopieren und mir aufpflanzen, doch ich greife ins Leere und mir wird klar, dass es sich nicht um ein Mädchen handelt, sondern nur um ein Bild eines Mädchens. Da ist nichts, was lebt oder denkt oder fühlt, ich lasse beinahe den Hasen fahren. Doch eben gerade noch kann ich sein Ohr erhaschen, umklammere es fest und zockel mit meinem Plüschfreund zu der rechten Bank. Ich setze mich in den Schneidersitz und spähe in den blauen Himmel hinein. Knallblau ist er, keine Wolke zu sehen und mitten drin, im blauen Meer sitzt die gelbe Sonne. Der Hase liegt in meinem Schoß, das Gesicht dem Boden zugewandt.
„Заєць – Zayets?“
Der Hase antwortet nicht. Ich drehe ihn herum, so dass sein spitzes Schnuppernäschen zum Himmel zeigt.
„Ich habe eben Papa gesehen.“ Ich flüstere, denn ich kann es kaum glauben. „Ob ich ihn wiedersehen kann?“
Dann ruckel ich mich auf der Bank zurecht, sperre die Augen auf und starre in die Sonne. Sofort tanzt ein dunkelgrünblauer Fleck vor meinen Augen herum, ich presse die Lider zusammen und reibe mit meinen Fäusten darauf herum. Als die Nachbilder abklingen, schüttle ich den Kopf und sehe auf den Boden vor mir. Kiesel, eine kleine Schlammlache, Unkraut.
„Hase?“
Er schweigt.
„Habe ich mir das alles nur eingebildet?“
Er schweigt. Alle schweigen, das ist lähmend.
Da hebe ich den Kopf erneut und blinzle in die Sonne, die in dem unverändert blauen Himmelsmeer schwimmt. Und diesmal gelingt es, ich fange den einen blitzenden Lichtstrahl ein, auf dem Papa heranreitet, größer und größer wird und schließlich vor mir in der klaren Luft schwebt.
„Papa!“, flüstere ich. „Bist du es wirklich?“
Er nickt und lächelt, streckt seine Hand aus und streichelt über meinen Kopf. Ich spüre seine Berührung, höre das ‚Кошеня, Kosenia, Kätzchen‘ in meinen Ohren nachklingen. So hat er mich gerufen, als wir uns an der polnischen Grenze getrennt haben, als wir auseinandergerissen wurden und Mama mit uns Kindern geflohen ist. „Papa, wo bist du?“
„Jetzt? In diesem Moment? Bei dir!“ Er lächelt. Danach verschränkt er die Arme vor der Brust, zieht sich etwas zurück und sieht aus seiner Höhe auf mich herunter. „Jetzt geh nach Hause, sei ein braves Kätzchen und hilf deiner Mama. Wir werden uns wiedersehen.“
„Versprochen?“
„Versprochen!“
Dann öffnete ich die Augen weit, Vater war weg, vom Westen zogen Wolken auf. Langsam machte ich mich auf den Weg nach Hause.
Vierzig Jahre später. Ich bin mit Freunden in Italien. Wir haben einen Platz ergattern können in Terracina. Seit einer Woche schon treiben wir unseren launigen Spaß hier am Strand, abends in den Nachtclubs, Bars oder Restaurants. Aber keiner hier weiß, warum ich wirklich mitgekommen bin. Mir geht es nicht um das Ambiente, das Flair, das Dolce Vita. Mir geht es einzig und allein um die Sonne, die hier so intensiv ist, in einem blauen Himmelsmeer. Die Farben meiner Heimat strahlen hier heller als in Deutschland. Jeden Morgen stehle ich mir meinen Moment, gehe auf den Balkon hinaus – mit Meerblick, darauf habe ich bestanden – und blinzle in die Sonne. Gerade dann, wenn sie aus der Morgenröte aufgetaucht ist und sich in ein strahlendes Gelb gekleidet hat. Dann begrüße ich Papa und Mama, dann sehe ich Sascha wieder und auch Raini. Oleg springt durch die Bilder. Und durch all den Tod und das Leid lächeln sie mich an, Papa, zerfetzt durch eine Splitterbombe, Mama, gestorben an ihrem gebrochenen Herzen, Sascha, der sich zwei Jahre nach der Flucht aus seinem neuen Leben herausgerissen hat und sich dem Widerstand in unserer Heimat angeschlossen hatte. Lange hatte sein Kampf nicht gedauert, er starb im Kugelhagel, irgendwo, irgendwann, in der kalten, nassen Wirklichkeit. Und Raini? Sie hatte sich das Leben genommen, kurz nachdem Mama eingeschlafen und Sascha in die Ukraine aufgebrochen war. Ich war zu dem Zeitpunkt in London, hatte täglich Telefonkontakt und wusste trotzdem nicht, wie ernst die Lage für sie war. Erst als ich morgens Papa im Licht begrüßt hatte und sie an seiner Seite aufgetaucht war, wurde mir klar, was geschehen sein musste.
Erst wenn die Augen brennen und die Dankbarkeit in mir hochkocht, wende ich mich von der Sonne ab, verlasse den Ort meiner Träume und wende mich dem Leben zu, packe es mit beiden Händen. Manchmal fühlt es sich weich und plüschig an und ich muss an ein Hasenohr denken.
Kari wäre stolz auf mich.
Wir, das sind meine Mutter, meine kleine Schwester Raini und Sascha, mein größerer Bruder. Raini ist noch ein Baby, sie schläft viel oder starrt aus dunklen Augen stumm in die Welt. Mutter weint oft, still, damit wir es nicht mitbekommen, aber ihre Augen sind immer nass. Sascha schweigt ebenfalls, nur am Mahlen seiner Kiefer kann ich sehen, dass er seine Meinung zurückhält, dass er beinahe an seiner Wut erstickt.
Wenn ich durch die Straßen ziehe, halte ich die Augen niedergeschlagen. Ich will kein Mitleid, ich will nicht bestaunt werden, oder gefeiert, dass ich es aus der Kriegshölle herausgeschafft habe. Meine Freundin Kari ist da anders. Wenn sie ihre Reichtümer am Abend vor mir ausbreitet, Dinge, die sie geschenkt bekommen hat, weil sie ein so braver und überlebenswilliger Flüchtling ist, und weil sie so bezaubernd lächeln kann, dann greife ich zu, obwohl ich selbst nicht gut heißen kann, was sie so anstellt. Aber da ist Schokolade!
Kari sagt, es sei nichts Falsches daran, die Geschenke anzunehmen. Die kämen von Herzen. Und sie freut es, wenn sich andere freuen, dass es sie gibt. Das ist Kari. Ich weiß nicht, wie sie sich diese Unbedarftheit erhalten konnte. In dem Maße, wie Kari abends ihren Tag heraussprudelt, schweige ich. Ich habe nichts zu erzählen. Da ist das plüschige Hasenohr, das sich weich in meinen festen Griff schmiegt. Aber ich sehe kaum etwas von dem Ort, an dem ich mich jetzt bewege. Da sind Häuser, Straßen, Autos, Busse. Menschen, viele Menschen. Hier und da ein Park, in dem es so schön still ist. Aber da ist nichts meins. Alles ist fremd. Alles ist fern. Es fühlt sich wie der Wintermantel an, den man mir umgelegt hat, als ich aus dem Zug geklettert war, eine Hand an Mamas Pullover. Er ist schön, er wärmt, aber er ist eine Spur zu groß und wiegt schwer auf den Schultern und wenn er in den Regen kommt, riecht er nach nassem Hund. Dann muss ich weinen, denn Oleg haben wir zurücklassen müssen. Oleg ist Saschas Hund. Aber wir durften alle mit ihm spielen und er hat Rainis Wiege angestoßen, wenn sie geweint hat. Braver Oleg, treuer Oleg. Vielleicht wartet er auf uns, wenn wir zurückkommen.
Ein Teil von mir weiß, dass wir niemals wieder nach Hause gehen werden. Ein Teil in mir weiß, dass die Heimat verbrannt sein wird, zerstört, genommen von unseren Eltern, Freunden, Geschwistern. Ich werde nie wieder die Alte sein.
Kari sieht mich manchmal überraschend ernst an. Einmal sagte sie in so einem Moment: „Dann hast Du jetzt die Möglichkeit komplett neu anzufangen. Schaff die Elena, die Du schon immer sein wolltest. Elena 2.0, sozusagen.“ Dann krauste sie die Nase und zwinkerte mir zu. „Das ist Deine Chance.“
Ich ziehe den Hasen hinter mir her. Bin wieder einmal dabei den Platz zu vermessen, mit meinen Füßen in den schmutzigen Schuhen. Als ich tief Luft hole, nur um sie mit einem halblauten Seufzen wieder aus mir heraus zu pressen, die Augen geschlossen, da pralle ich mit einem Mal gegen etwas. Ich mache einen halben Schritt zurück und sehe nach oben. Vor mir steht ein Mann, ein Riese und er beugt sich ein Stück zu mir hinunter. Das Sonnenlicht scheint an seinem Ohr vorbei, pikst mich in die Augen, so dass ich kaum etwas erkennen kann.
„Вибачте – Entschuldigung!“ Stammle ich und ziehe den Hasen fest an mich heran.
Der Mann antwortet irgendein für mich unverständliches Kauderwelsch. Es ist Deutsch, aber ich kann die Sprache nicht, vor allem nicht, wenn sie so geballt und schnell auf mich niederprasselt. Ich versuche links und rechts an den Beinen des Herren vorbei zu spähen, will weglaufen, will nicht länger auffallen oder überhaupt gesehen werden. Da spüre ich, wie seine große Hand sich auf meinen Kopf legt, auf mein Haar, das zu zwei zerfranselten Zöpfen geflochten ist, eine Aufgabe, die ich jeden Morgen selbst übernehme, während Mama sich um Raini kümmert. Und mit einem Mal ist es so vertraut. Ich hebe den Kopf, sehe in das Licht, das noch immer um den Kopf des Fremden strahlt, aber da schält sich ein Gesicht aus der Helle, ein Gesicht, das ich kenne und zu dem eine tiefe, warme Stimme gehört, mit einem tiefen sanften Lachen. Papa! Denke ich. Papa, bist du es? Eine Träne löst sich von meinen Wimpern und läuft mir die Wange hinunter.
Der Fremde geht jetzt in die Knie, hockt sich vor mich und will mich beruhigen. Da sehe ich, dass es nicht der Papa ist, löse mich aus dem sanften Griff des Fremden und laufe los, den Hasen immer noch fest in der Hand.
Als ich beschließe, dass es mit dem Rennen genug sei, halte ich an und sehe mich um. Ich bin im Hofgarten gelandet, vor mir schwingt sich der grüne Hügel in die Höhe. Auf dem Plateau dort oben gibt es Bänke und die Statue eines Mädchens. Ich mag das Mädchen, sie ist mir schon einmal auf meinen Streifzügen begegnet. Es hat so ein liebes Lächeln auf den starren Lippen. Dieses Lächeln wird nicht vergehen. Sie ist glücklich und das schon eine lange Zeit, wie mir das Grün auf ihrer Haut erzählt. Papa hat mir einmal erzählt, dass das Patina sei. Ein Teil in mir will wie das Mädchen sein. Ein Teil will glücklich sein.
Ich wandere also den Hügel hinauf und stelle mich vor das Mädchen hin. Vorsichtig hebe ich die Hand und betaste ihren Mund, will ihr Lächeln kopieren und mir aufpflanzen, doch ich greife ins Leere und mir wird klar, dass es sich nicht um ein Mädchen handelt, sondern nur um ein Bild eines Mädchens. Da ist nichts, was lebt oder denkt oder fühlt, ich lasse beinahe den Hasen fahren. Doch eben gerade noch kann ich sein Ohr erhaschen, umklammere es fest und zockel mit meinem Plüschfreund zu der rechten Bank. Ich setze mich in den Schneidersitz und spähe in den blauen Himmel hinein. Knallblau ist er, keine Wolke zu sehen und mitten drin, im blauen Meer sitzt die gelbe Sonne. Der Hase liegt in meinem Schoß, das Gesicht dem Boden zugewandt.
„Заєць – Zayets?“
Der Hase antwortet nicht. Ich drehe ihn herum, so dass sein spitzes Schnuppernäschen zum Himmel zeigt.
„Ich habe eben Papa gesehen.“ Ich flüstere, denn ich kann es kaum glauben. „Ob ich ihn wiedersehen kann?“
Dann ruckel ich mich auf der Bank zurecht, sperre die Augen auf und starre in die Sonne. Sofort tanzt ein dunkelgrünblauer Fleck vor meinen Augen herum, ich presse die Lider zusammen und reibe mit meinen Fäusten darauf herum. Als die Nachbilder abklingen, schüttle ich den Kopf und sehe auf den Boden vor mir. Kiesel, eine kleine Schlammlache, Unkraut.
„Hase?“
Er schweigt.
„Habe ich mir das alles nur eingebildet?“
Er schweigt. Alle schweigen, das ist lähmend.
Da hebe ich den Kopf erneut und blinzle in die Sonne, die in dem unverändert blauen Himmelsmeer schwimmt. Und diesmal gelingt es, ich fange den einen blitzenden Lichtstrahl ein, auf dem Papa heranreitet, größer und größer wird und schließlich vor mir in der klaren Luft schwebt.
„Papa!“, flüstere ich. „Bist du es wirklich?“
Er nickt und lächelt, streckt seine Hand aus und streichelt über meinen Kopf. Ich spüre seine Berührung, höre das ‚Кошеня, Kosenia, Kätzchen‘ in meinen Ohren nachklingen. So hat er mich gerufen, als wir uns an der polnischen Grenze getrennt haben, als wir auseinandergerissen wurden und Mama mit uns Kindern geflohen ist. „Papa, wo bist du?“
„Jetzt? In diesem Moment? Bei dir!“ Er lächelt. Danach verschränkt er die Arme vor der Brust, zieht sich etwas zurück und sieht aus seiner Höhe auf mich herunter. „Jetzt geh nach Hause, sei ein braves Kätzchen und hilf deiner Mama. Wir werden uns wiedersehen.“
„Versprochen?“
„Versprochen!“
Dann öffnete ich die Augen weit, Vater war weg, vom Westen zogen Wolken auf. Langsam machte ich mich auf den Weg nach Hause.
Vierzig Jahre später. Ich bin mit Freunden in Italien. Wir haben einen Platz ergattern können in Terracina. Seit einer Woche schon treiben wir unseren launigen Spaß hier am Strand, abends in den Nachtclubs, Bars oder Restaurants. Aber keiner hier weiß, warum ich wirklich mitgekommen bin. Mir geht es nicht um das Ambiente, das Flair, das Dolce Vita. Mir geht es einzig und allein um die Sonne, die hier so intensiv ist, in einem blauen Himmelsmeer. Die Farben meiner Heimat strahlen hier heller als in Deutschland. Jeden Morgen stehle ich mir meinen Moment, gehe auf den Balkon hinaus – mit Meerblick, darauf habe ich bestanden – und blinzle in die Sonne. Gerade dann, wenn sie aus der Morgenröte aufgetaucht ist und sich in ein strahlendes Gelb gekleidet hat. Dann begrüße ich Papa und Mama, dann sehe ich Sascha wieder und auch Raini. Oleg springt durch die Bilder. Und durch all den Tod und das Leid lächeln sie mich an, Papa, zerfetzt durch eine Splitterbombe, Mama, gestorben an ihrem gebrochenen Herzen, Sascha, der sich zwei Jahre nach der Flucht aus seinem neuen Leben herausgerissen hat und sich dem Widerstand in unserer Heimat angeschlossen hatte. Lange hatte sein Kampf nicht gedauert, er starb im Kugelhagel, irgendwo, irgendwann, in der kalten, nassen Wirklichkeit. Und Raini? Sie hatte sich das Leben genommen, kurz nachdem Mama eingeschlafen und Sascha in die Ukraine aufgebrochen war. Ich war zu dem Zeitpunkt in London, hatte täglich Telefonkontakt und wusste trotzdem nicht, wie ernst die Lage für sie war. Erst als ich morgens Papa im Licht begrüßt hatte und sie an seiner Seite aufgetaucht war, wurde mir klar, was geschehen sein musste.
Erst wenn die Augen brennen und die Dankbarkeit in mir hochkocht, wende ich mich von der Sonne ab, verlasse den Ort meiner Träume und wende mich dem Leben zu, packe es mit beiden Händen. Manchmal fühlt es sich weich und plüschig an und ich muss an ein Hasenohr denken.
Kari wäre stolz auf mich.