Warum war Grope so? Nun, ein Riese, wie er es nun einmal war, ein Bär eben, der hatte keine Feinde zu fürchten. Niemand traute sich, ihm eine zu pfeffern. und nur die wenigsten hätten überhaupt die Chance gehabt, seine Nase zu erreichen. Grope hatte also keine Feinde. Aber hatte er Freunde? Seine Sanftmut hatte ihm eine Schar Schutzbedürftiger beschert. Aber waren sie echte Freunde? Was gaben sie ihm? Auch wenn wir an dieser Stelle eventuell eine Kosten-Nutzen-Aufstellung in Erwägung ziehen wollen, sollten wir dieses Ansinnen am besten im Keim ersticken. Denn Grope rechnete nie auf, niemals. Es kam ihm einfach nicht in den Sinn.
An warmen Tagen hielt er einen riesigen Sonnenschirm in seinen Pranken, so dass er seinen Freunden Schatten spendete. An kalten, nassen Tagen tauschte er den Parasol gegen einen Regenschirm oder er zog eine Karre durch den Matsch, ausgestattet mit einem Regenschutz, und transportierte seine freunde trockenen Fußes von A nach B. Wenn Grope nass wurde, lächelte er, denn er wusste, dass die Blumen blühen würden, sie würden wachsen und gedeihen. Wenn Grope heiß wurde, schnappte er sich einen Fächer aus Straußenfedern und fächelte sich und seinen Freunden Luft zu. Und er lächelte, denn etwas Abkühlung konnte ja nie schaden.
Eines Morgens wachte Grope auf und war allein- Das verwunderte ihn, denn das war ein Zustand, den er so nicht kannte. Normalerweise waren immer wenigstens ein oder zwei seiner Freunde bei ihm, die Schutz vor der Draußenwelt suchten.
Da wurde Grope ganz blümerant zu Mute. Unsicherheit kroch in seiner Seele hoch, denn wer war er schon. wenn es niemanden zu beschützen galt?
Grope stand auf, zog sich an und steckte sich sein Gänseblümchen ans Revers, so wie an jedem normalen Tag. Doch er war unachtsam an diesem Morgen und so ließ das Blümchen den geknickten Kopf hängen. Das missvergnügte unseren Bären und er grollte etwas dunkles, kehliges, das niemand hätte entziffern können, der es gehört hätte. Aber es war ja niemand da, der Grope hätte zuhören können. Das spürte Grope, er bemerkte es sehr wohl und es schmeckte ihm nicht.
Als er ohne Frühstück vor die Tür trat, regnete es in dünnen Perlschnüren vom Himmel auf den Boden herab, die Tropfen bildeten einen feinfädigen Vorhang, der den Bären in wenigen Minuten vollständig durchnässte. Aber anstatt den Regenschirm aufzuspannen, wie er es sonst im Kreise seiner Freunde getan hätte, dachte er gar nicht daran , sondern grummelte in seinen üppigen Bart und stiefelte durch den Schlamm, quer über die Wiesen, durch Tore hindurch, bis hin zur Steilküste. Dort wechselte das Wetter und bald schon brannte die Sonne auf seinen Pelz. Doch anstatt Schatten zu suchen, oder den Sonnenschirm aufzuspannen, verharrte Grope in der gleißenden Sonne und grollte ungehalten in das strahlende Azurblau des Sommerhimmels.
Da zogen Wolken auf, Gewitterwolken, und bald schon grollten sie mit ihm um die Wette. Aber das erfreute Grope nicht. Dieses Grollen war bedrohlich und klang so ganz anders als das Lachen seiner Freunde. Also hielt er den Mund. Da schwiegen auch die grauen, dickbäuchigen Wolken. Alles schien zu warten. Aber auf was? Auf wen? Und wer wartete hier überhaupt? Es gab hier nur eine gähnend leere Felslandschaft.
Grope hielt den Atem an. Und mit einem Mal, mitten in die gespannte Stille hinein, explodierte ein Freudentaumel und -gejohle. Seine kleinen Freunde schlüpften aus Felsspalten und Höhlen, bestürmten ihn und fanden sich zu einem Ringelreihen zusammen, immer um ihn herum und rum und rum. Sie führten ihn hinter einen Felsen, wo sie eine Torte versteckt hatten, mit 47 Kerzen darauf, und sie sangen alle Geburtstagslieder, die sie kannten und lebten ihn hoch und höher.
Da wischte sich der große, unbewegte Bär eine Träne aus dem Augenwinkel und eine Last fiel von ihm ab. Die Last des Knurrens und des Brummens. Die Last des Ungehalten seins und des Zweifels. Die Last der Einsamkeit.
Und die Freude zog stattdessen wieder in ihn ein. Das gute Gefühl, geliebt zu werden.
Und ganz zum Schluss realisierte er, dass er doch tatsächlich seinen Geburtstag vergessen hatte! Gut, dass er Freunde hatte, die ihn daran erinnerten. So wurde Grope wieder zum sanftmütigen Bären. Und der würde er auch in Zukunft bleiben.